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Wildtiere in der Coronakrise: Ursprung, Opfer oder Gewinner?

Teaser: Die Coronakrise hält die Welt in Atem. Nichts scheint wie zuvor, überall auf der Welt hat sich der Alltag der Menschen auf einmal grundlegend verändert. Nur die Wildtiere, so scheint es, leben wie eh und je in der Freiheit der Natur, ohne vom Virus betroffen zu sein. Doch ist das wirklich so? Was bedeuten die aktuelle Pandemie und die Maßnahmen zu deren Eindämmung für das Tierreich?

Mit dem Ausbruch des Coronavirus fiel auch der Startschuss für das Wettrennen der Suche nach dessen Ursprung – denn um wirksame Präventionsarbeit zu leisten ist diese Nachforschung unerlässlich. So bekräftigt der Epidemiologe Dirk Pfeiffer von der Hong Kong City University: „Wir müssen wissen, wo das Virus herkam und wie die Verwertungsketten aussehen. Nur dann können wir gezielt die Schnittstellen angehen.“

Ursprung des Coronavirus: Wissen oder Vermuten?

Auf einem Wet Market in Wuhan haben sich im Dezember 2019 vermutlich die ersten Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert. Daher wird angenommen, dass dort die regionale Herkunft der Pandemie liegt. Dabei sollte der Begriff „Wet Market“ nicht mit „Wildtiermarkt“ gleichgesetzt werden: „Wet Markets“ werden so bezeichnet, da dort Wasser auf den Produkten verteilt wird, um sie frisch und kühl zu halten. Außerdem werden üblicherweise auch lebendige oder kurz vorher geschlachtete Tiere verkauft. Nur in manchen Fällen handelt es sich dabei um Wildtiere.                                               Dass das Virus auf dem Markt in Wuhan ausgebrochen ist, ist momentan nicht bewiesen  und wird es vermutlich nie sein, da der Markt kurze Zeit nach dem Ausbruch gesäubert und so die Spurensuche stark erschwert wurde. Doch egal wie die Übertragung genau stattgefunden hat: Mit Sicherheit stehen die Interaktionen und Umstände auf dem Markt im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Pandemie.

Außerdem ist mittlerweile bewiesen worden, dass SARS-CoV-2 einen natürlichen, tierischen Ursprung hat. Leider können sich Hypothesen, die einen gezüchteten Virus aus dem Labor propagieren, immer noch hartnäckig halten.

Die Rolle der Fledertiere

Fledertiere sind besondere und faszinierende Tiere. Nicht nur, weil sich einige mit Hilfe von Echolot und Magnetfeldern orientieren und sie als einzige Säugetiere eigenständig fliegen können, sondern auch aus virologischer Sicht. Unter anderem, weil sie in großen Gruppen leben und sich so Viren schnell verbreiten können, dienen die über 1000 Arten der Fledermäuse und Flughunde als natürliches Reservoir für eine unglaubliche Zahl von Viren – darunter auch das Ebolavirus, an dem 2014 und 2015 in Westafrika über 10.000 Menschen starben. Dass die Fledertiere selbst durch die Viren nur selten krank werden, liegt auch an ihrem besonders starken Immunsystem, das noch nicht abschließend erforscht wurde.

Auch für SARS-CoV-2 dienten vermutlich Fledermäuse als Reservoir. Dies wurde aus genetischen Analysen gefolgert, die zeigen, dass das Virus einer Fledermaus aus der chinesischen Provinz Yunnan eine 96%-ige Übereinstimmung mit SARS-CoV-2 aufweist. 96 % klingt zunächst nach einer sehr hohen Rate, doch ist sie nicht hoch genug, um daraus mit Sicherheit zu schließen, dass SARS-CoV-2 direkt von einer Fledermaus auf den Menschen übertragen wurde. Die Hypothese, dass es einen Zwischenwirt gegeben haben muss, der in der Übertragungskette zwischen Fledermaus und Mensch steht, findet daher viel Unterstützung.

Schuppentier: möglicher Zwischenwirt

Dieser mögliche Zwischenwirt konnte bisher noch nicht identifiziert werden. Einer der Kandidaten ist das Schuppentier: Bei ihm fanden Forscher*innen bislang ein Virus mit einer ca. 90%-igen Übereinstimmung. Diese Zahl ist ebenfalls nicht hoch genug, um es eindeutig als Zwischenwirt zu identifizieren.

Die Schuldfrage

In den Medien wurde und wird entsprechend häufig über die Forschung zum Virusursprung berichtet. Dabei verdreht die Wortwahl in manchen Fällen die wissenschaftlichen Tatsachen: So titelte die britische Boulevardzeitung Daily Mail, dass das Schuppentier von den Forschern der Verbreitung des Virus „beschuldigt“ wird. Doch von Schuld kann bei Wildtieren nicht die Rede sein: Es darf nicht vergessen werden, dass ohne das menschliche Eindringen in die Habitate von Wildtieren das Coronavirus wohl nie den Weg zum Menschen gefunden hätte. Der US-amerikanischen Virologe Dennis Carroll  bringt es auf den Punkt: „Viren verbreiten sich nicht selbst. Menschen verbreiten Viren.“

Ebenso wenig wie den Wildtieren darf „den Chinesen“ als vereinheitlichte Gruppe die Schuld am Ausbruch gegeben werden. Bei den Bildern und Videos von chinesischen Tiermärkten kommt man schnell zu dem Trugschluss, dass der Konsum von Wildtieren überall in China fest in der Kultur verankert sei. Dem ist aber nicht so: Eine Umfrage  hat ergeben, dass bereits 2014, also lange vor der Coronakrise, 52,7 % der befragten Chinesen der Meinung waren, Wildtiere sollten nicht konsumiert werden.

Folgen für Wildtiere: Schutz oder Gefahr?

Aufmerksamkeit für das Schuppentier

Für die Schuppentiere ist die massenhafte Berichterstattung eine große Chance: Die mögliche Rolle als Zwischenwirt hat dem Tier erfreulicherweise viel mediale Aufmerksamkeit geschenkt. Diese könnte grundlegend etwas an der Situation des Schuppentiers ändern, denn besonders wegen seines Fleisches, das vielerorts als Delikatesse gilt, und seiner Schuppen, die in der Traditionellen Chinesischen Medizin als „Heilmittel“ verwendet werden, ist es das meistgeschmuggelte Säugetier der Welt. Bereits jetzt hat beispielsweise die Regierung Gabuns ein Ess- und Handelsverbot von Schuppentieren und die chinesische Regierung sogar ein generelles Wildtierhandelsverbot  beschlossen. Es bleibt zu hoffen, dass viele andere Staaten mitziehen, dem Schmuggel den Kampf ansagen und Taten folgen lassen.

Hoffnung auf langfristige Maßnahmen gegen Wildtierhandel

Wenn ein Handelsverbot in Kraft tritt, bedeutet das allerdings nicht, dass ab dem Zeitpunkt gar kein Handel mehr stattfindet.                                                                                                                     Zum einen besteht die Gefahr, dass die gesamte Wirtschaft in den Schwarzmarkt übergeht, wenn Verbote vorschnell und unüberlegt eingesetzt werden. Zum anderen sind sie in fast jedem Fall nur mit großem Aufwand durchzusetzen. Dies wird auch dadurch deutlich, dass allein im ersten Monat des aktuell gültigen Wildtierhandelsverbots in China rund 140.000 Wildtierprodukte von Online-Plattformen entfernt werden mussten. Momentan gibt es Anzeichen  dafür, dass die chinesische Regierung das zunächst temporäre Verbot zu einem permanenten machen könnte. Das wäre trotz der Zweifel an einer durchweg erfolgreichen Umsetzung ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die Ausbeutung der Tierwelt.

Trotzdem ist an der Linie der chinesischen Regierung zu kritisieren, dass sie offiziell ein Mittel zur Behandlung des Coronavirus empfohlen hat, das Bärengalle enthält . Diese wird hergestellt, indem in Gefangenschaft gehaltenen Bären mit einem Rohr im Körper ihre Galle entnommen wird, sodass sie zu „Medizin“ verarbeitet werden kann. Die Tierschutzorganisation Animals Asia schreibt dazu: „Bärengalle extrahieren ist so grausam und schmerzhaft, wie man es sich nur vorstellen kann.

Die Wildtiere erobern die Städte zurück?

Und auch für die Wildtiere, die momentan überall auf der Welt in verlassenen Straßen gesichtet werden, bedeutet der Ausnahmezustand nicht unbedingt eine Besserung ihrer Lebensbedingungen. Trotzdem entstehen daraus Erzählungen über die wundersame Rückeroberung der Städte durch die Wildtiere, da sie der Krise für viele Menschen einen gewissen Sinn geben. Spätestens nach dem Ende der Ausgangssperren wird aber auch das menschliche Großstadtleben wieder Fahrt aufnehmen und herzerwärmende Anblicke wie die der Rehe in der japanischen Großstadt Nara  werden wieder seltener werden.

Allerdings können die Sichtungen und deren mediale Verbreitung durchaus positive Folgen haben. „Wenn durch diese Krise irgendetwas Gutes erreicht werden kann, dann hoffentlich, dass wir daran erinnert werden, dass Wildtiere schon immer in unseren Wohngebieten gelebt haben. Wir sehen unsere Städte vielleicht nicht als Teil der Natur, doch sie sind es„, so Seth Magle vom Urban Wildlife Institute in Chicago .

Für viele der Tiere, deren Leben direkt von Menschen abhängt, könnte die Coronakrise allerdings fatale Folgen haben. Das ist zum Beispiel bei jenen der Fall, die aktiv vor Wilderei geschützt werden müssen.

Coronakrise begünstigt Wilderei

Dazu gehören auch die Nashörner Afrikas, die seit jeher wegen ihrer Hörner illegal geschossen werden. Nun befürchten verschiedene Organisationen, die sich gegen die Wilderei einsetzen, finanzielle Engpässe. Diese könnten entstehen, da in vielen Ländern die Naturschutzarbeit auch von den Einnahmen der Tourismusbranche finanziert wird. Einen Eindruck von den Zusammenhängen zwischen Tourismus und Wilderei verschafft der Blick auf Südafrika, wo im Jahr 2018 85 % der Gelder für die Behörde für Wildtiere und öffentliche Flächen (South Africa National Parks) aus der Tourismusbranche stammten – paradoxerweise auch aus den Einnahmen durch touristische Trophäenjagden.

Wenn bald durch die Geldnot zum Beispiel die Gehälter der Ranger*innen nicht mehr finanziert werden können, können diese nicht mehr in den Nationalparks patrouillieren. Das hat zwangsläufig ein erhöhtes Risiko der Wilderei zur Folge. Außerdem steigen in der nächsten Zeit womöglich Menschen, die durch die Coronakrise ihre Jobs verloren haben, in das Geschäft der Wilderei neu ein.

Matt Brown, der Regionalleiter Afrika der Nature Conservancy, schätzt die Lage wie folgt ein: „Wir befürchten, [wegen der Coronakrise] in kurzer Zeit die letzten 10 Jahre guter Naturschutzarbeit und viele Tiere zu verlieren. […] [Die Menschen, die jetzt ihre Jobs verlieren,] werden Hunger bekommen. Sie werden nach Gelegenheiten Ausschau halten, und die Nashörner sind um die Ecke.“ Bereits jetzt gibt es erste Berichte aus Südafrika, wo ein Anstieg der Wildereifälle zu beobachten ist. Eine langfristigere und damit aussagekräftigere Bilanz wird sich wohl aber erst in ein paar Wochen ziehen lassen.

Menschenaffen in Gefahr?

Ebenso noch nicht einschätzbar ist die direkte Bedrohung durch das Coronavirus für unsere nächsten Verwandten, die anderen Menschenaffenarten. Es wird aber befürchtet, dass auch Gorillas, Schimpansen & Co an Covid-19 erkranken können, da Menschenaffen besonders anfällig für menschliche Atemwegserkrankungen sind. Sie teilen im Durchschnitt ca. 98 % der Gene mit uns Menschen. Ein Ausbruch wäre dramatisch, da bereits 5 der 7 von der IUCN  gelisteten Menschenaffenarten (der Mensch einmal ausgeschlossen) als „critically endangered“, also als vom Aussterben bedroht gelten.

Um eine Epidemie unter den Affen zu verhindern, haben 25 führende Wissenschaftler*innen einen offenen Brief  an Regierungen, Naturschützer*innen, Forscher*innen, Vertreter*innen aus der Tourismusbranche und Leistungsträger*innen verfasst, in dem sie vor den möglichen drastischen Folgen warnen. Thomas Gillespie, einer der Hauptautoren des Briefs, erläutert dazu: „Besonders jüngere Menschen, die tendenziell weniger von einem schlimmen Krankheitsverlauf gefährdet sind, werden [in nächster Zeit] in den afrikanischen und asiatischen Nationalparks wandern gehen, um Menschenaffen in der Wildnis zu beobachten. [Im Falle eines Ausbruchs wäre es] extrem schwierig nachzuverfolgen, ob die Affen infiziert sind, da sie womöglich keine offensichtlichen Symptome zeigen würden.“

Nationalparks im Dilemma

Ein wichtiger und naheliegender Schritt, um eine Infektion der Affen zu verhindern, ist die Schließung der Nationalparks für jegliche Gäste, wie es bereits in Ruanda und im Kongo geschehen ist. Daraus ergibt sich aber ein Dilemma: Ohne Gäste steigt das Risiko der Wilderei, da Wilderer touristische Gegenden meiden  und auf lange Sicht Gelder fehlen könnten – darunter im Zweifelsfall auch die Gehälter von Ranger*innen.

Schließlich wird die Pandemie vermutlich auch für Tiere mehr Leid als Chancen bringen.

Ausblick: Was können wir lernen?

Wie lassen sich Pandemien wie die aktuelle vorbeugen? Was muss getan werden, um eine Übertragung von Tieren auf Menschen zu verhindern?

Wildtier – Wet Market – Mensch

Der Kontakt und die Nähe zu Wildtieren birgt unweigerlich das Risiko neuer Infektionskrankheiten, da die Krankheitserreger auf diesem Wege zum ersten Mal überhaupt mit einem Menschen in Kontakt kommen können. Das zeigen auch die Daten der letzten Jahrzehnte: Schätzungen zufolge  entstammen über 43 % der Infektionskrankheiten, die beim Menschen zwischen 1940 und 2004 neu aufgetreten sind, Wildtieren.                                                                                                            Daher befürwortet der Veterinärmediziner und Epidemiologe Dirk Pfeiffer, der die „Schnittstelle Wildtier, Wet Market und Mensch“ als Quelle der Epidemie bezeichnet: „Es geht darum, dass man die Kontaktpunkte versucht zu minimieren und Übertragungen vermeidet. Da gilt erst mal das Gleiche, was die WHO uns aktuell jeden Tag einhämmert: Hygiene und Abstand. Zum Beispiel, indem man die Regel einführt, dass Wildtiere in Wet Markets getrennt von anderen Tieren gehalten werden. Und dass nach dem Tagesgeschäft alles gut geputzt werden muss.“

Gleichzeitig sei so auf lange Sicht das Problem des Risikos eines Ausbruchs nicht aus der Welt geschafft. Daher schlägt Dirk Pfeiffer zusätzlich vor: „Es geht aber auch darum, die Nachfrage zu verringern. In Singapur gab es den Wildtierhandel auf Märkten auch mal. Heute ist das vorbei, weil sich die Esskultur geändert hat. Im Bewusstsein der chinesischen Nation hat die chinesische traditionelle Medizin immer noch einen hohen Stellenwert. Die Nachfrage nach Wildtieren ist vom Glauben getrieben, dass deren Konsum Glück bringe oder Gesundheit. Durch Aufklärung muss man auch an dieser kulturellen Stellschraube langsam drehen.“                                             Damit eine solche Präventionsarbeit in Form von Aufklärung und Weiterbildung effektiv geleistet werden kann, müsse aber erforscht werden, wie die Übertragungsketten genau aussehen.

Diese Nachforschung ist ebenfalls essentiell für die richtigen Ansätze in anderen Gebieten; dazu gehört unter anderem auch die starke Lobby der Wildtierhändler*innen (in China arbeiten geschätzte 14 Millionen Menschen  in der Industrie des Wildtierhandels und -konsums).

„One Health“: Wegweiser für die Zukunft

Wie also zukünftige Epidemien verhindern, wie die Risiken minimieren?                                          Den Weg in eine Zukunft, in der uns keine weiteren Pandemien aufgrund von schädlicher Tierhaltung bevorstehen, stellt das „One Health“-Konzept in Aussicht. An und mit diesem Konzept wird bereits seit Jahrhunderten gearbeitet – allerdings lange Zeit nicht unter dem Begriff „One Health“ – und heutzutage wird es von der WHO unterstützt und weiterentwickelt.
Den Kern des Konzepts bildet die unbedingte Einheit von Mensch, Tier und Umwelt. Dies bedeutet, dass sektorenübergreifend Zusammenhänge zwischen verschiedenen Bereichen hergestellt werden, die bei zu kleinschrittigen Präventionsansätzen häufig unbeachtet bleiben.

Konkret heißt das: Bereiche wie Landwirtschaft, Tiermedizin, Humanmedizin und Ernährung werden nicht separiert, sondern als ein großes Ganzes betrachtet. Statt Scheinarbeit zu leisten und nur die Symptome zu bekämpfen, können so die Ursachen an der Wurzel gepackt werden. Dies geschieht zum Beispiel auch dadurch, dass am Gesundheitssystem und an der Sensibilisierung der Bevölkerung für Hygiene gearbeitet wird.

Wenn der „One Health“-Ansatz überall auf der Welt konsequent verfolgt wird, könnte allen geholfen werden: den Wildtieren Chinas, den begehrten Schuppentieren, den Nashörnern Afrikas, den gefährdeten Menschenaffen und schließlich auch uns Menschen.

Die Weltgemeinschaft muss sich jetzt fragen: Wie sieht die Zukunft der Tierhaltung aus? Welche Alternativen dazu gibt es? Nur, wenn auf diese Fragen bald Antworten gefunden werden, werden Mensch und Tier in Frieden zusammen und manchmal eben auch getrennt auf dieser Erde leben können.

Okke Reuer