BUNDjugend  
Corona weltweit

Interview mit Amena aus Ägypten

  1. Alter, Beruf, Superheldenpower
    Mein Name ist Amena und ich bin 26 Jahre alt. Ich arbeite als Umweltgerechtigkeitsforscherin. Meine Superkraft ist es, all die Wäsche, die von meinem Balkon auf den meiner Nachbarn gefallen ist, wieder zurück zu holen, ohne dass sie es merken. Ich nutze meine Kräfte nur für den guten Zweck.
  2. In welcher Situation befindet sich das Land, in welchem du lebst, gerade in Bezug auf Cornona-Krise?
    Ägypten ist mit 1.322 erfassten Corona-Fällen und insgesamt 85 Todesfällen (Stand 7. April 2020) nicht so stark betroffen wie andere Länder. Dazu muss man aber sagen, dass Ägypten nur sehr wenige Tests durchführt. Bei einem Land mit mehr als 100 Millionen Einwohner*innen und einer Wirtschaft, die auf den Tourismus angewiesen ist, sind 25.000 Tests unzureichend.
  3. Wie gehen die Regierung und Verwaltungsbehörde mit der Krise um? Wie wird alles kommuniziert? Was sind die größten Herausforderungen für die Einwohner*innen?
    Es ist eine interessante Zeit um in einem Land mit faschistischem Militärregime zu leben. Es gibt den großen Wunsch auf derselben Seite wie die Regierung zu stehen. Das zeigt sich nicht nur in Ägypten, sondern überall auf der Welt. Der Schock- und Angstzustand, in dem sich die meisten Leute gerade befinden, kombiniert mit einem Anstieg an Gerüchten und Falschinformationen, bedeutet, dass die Menschen nach Trost in einer mächtigeren Institution mit besserem Zugang zu mehr Informationen suchen. Diese Institution ist in den meisten Ländern die Regierung. Ägypten ist schon lange von Intransparenz und der Bevorzugung der Privatwirtschaft vor den Interessen der öffentlichen Gesellschaft geprägt. Daraus folgt die Spaltung der Gesellschaft.Auf dem Papier hat die Regierung tatsächlich mehrere Verordnungen erlassen, die den Empfehlungen der WHO entsprechen und die nachweislich die Verbreitung der Krankheit eindämmen können. Es wurden auch verschiedene Bekanntmachungen und Anzeigen veröffentlicht, die Achtsamkeit im Umgang mit Corona verbreiten sollen. Darunter sind auch ein informierender Song, der zu der Melodie eines bekannten ägyptischen Liedes geschrieben wurde und einen Gesang gegen die in Ägypten typische Begrüßungsweise sich auf die Wangen zu küssen. Das eine, was diese beiden Produktionen, neben dem typischen ägyptischen Humor, gemeinsam haben, ist, dass beide von bekannten privaten Medienunternehmen produziert worden sind, die sich fast keiner Glaubwürdigkeit erfreuen und dafür bekannt sind, dass sie sehr regierungsfreundlich sind.

    Ich sehe Menschen, die unter dem faschistischen Regime leben und angefangen haben einen Waffenstillstand mit ihm zu schließen, was aber leider nicht auf Gegenseitigkeit beruht. In Ägyptens Gefängnissen sind immer noch über 60.000 politische Gefangene inhaftiert. Davon sind schätzungsweise 1.000 Menschen medizinische Fachkräfte. Aktivisten haben dazu aufgefordert diese Menschen freizulassen, zum einen, um die Verbreitung einzugrenzen und zum anderen, damit sie das geschwächte Gesundheitssystem stärken können. Bis jetzt sind sie aber nur auf taube Ohren gestoßen.

  4. Wie fühlst du dich persönlich? Wie beeinflusst die Krise dich und dein Leben? Was gibt dir Stärke?
    Viele Menschen mit psychischen Problemen entdecken gerade ganz neues Terrain. Anders als bei anderen Situationen, in der Reaktionen auf eine schwere Situation vielfältig ausfallen können, ist dies momentan eine einzigartige Situation, in der tatsächliche physische Beschränkungen in Kraft treten. Ich persönlich mache mir Sorgen um die Sicherheit meines Jobs. Ich bin mir unsicher, bis zu welchem Ausmaß ich fähig wäre, weiterhin meine Familie zu unterstützen. Ich bin mir unsicher, wie lange ich noch weiter meine Miete zahlen könnte, wenn ich wirklich meinen Job verlieren würde. All diese Unsicherheiten haben einen Sturm von Gedanken in mir ausgelöst, der mich und meine psychische Gesundheit stark beeinträchtigt.Glücklicherweise bin ich mit meiner Mitbewohnerin in Quarantäne, die außerdem auch eine sehr enge Freundin von mir ist. Ich glaube wir sind beide sehr überrascht darüber, dass wir das gerade alles zusammen hinkriegen. Ich bin außerdem beruhigt und erinnert, was für tolle Menschen ich in meinem Leben habe und hoffentlich auch in den Leben von anderen Menschen. Ich würde sagen, dass der Ansatz unbedingt die positive Seite der Situation darstellen zu wollen der Situation nicht gerecht wird, aber ich merke, wie das Social Distancing nochmal zeigt, wie wichtig diese menschlichen Beziehungen sind.
  5. Was können Deutschland und die Europäische Union momentan tun, um deinem Land in der jetzigen Situation zu helfen? Worum würdest du sie bitten?
    Letzte Woche hat ein Mitarbeiter des Nationalen Ägyptischen Krebsinstituts (NCI) angefangen, auf Facebook über eine Anzahl von Coronafällen in dieser Einrichtung zu posten. Forderungen nach Hilfe wurden abgelehnt. Dem Institut wurde nicht mehr Personal zur Verfügung gestellt und die Patienten und Mitarbeiter wurden mit ihrer Panik und Angst allein gelassen. Dieser Vorfall ist keine Folge eines schwachen Covid-19-Plans. Er ist das Ergebnis von jahrelanger Korruption, Vetternwirtschaft und dem völligen Fehlen von Verantwortungsbewusstsein. Es ist eine Kultur, die es fördert, dass Probleme eher unter den Teppich gekehrt werden, anstatt sie zu lösen. So wurde es dann auch mit den Corona-Fällen im NCI gemacht. Dieses System hat Giulio Regini umgebracht, es deportiert Journalisten und verhaftet Kinder und ältere Menschen. Das System unterstützt auch weiterhin so viele politische Morde in- und außerhalb der Gefängnisse und bekommt dafür kaum ein Achselzucken von der internationalen Gemeinschaft. Im Gegenteil: Ägypten und das Militärregime, das das Land als Geisel hält, bekommt immer noch finanzielle und anderweitige Hilfe von Deutschland und der Europäischen Union.Die jetzige Situation könnte als eine Zeit gesehen werden, in der medizinische Hilfsmittel verschickt werden und das wars. Aber es ist auch eine Zeit, in der die Menschen ihre Regierungen auf ihre Auslandspolitik ansprechen können. Es ist die Zeit, in der die Franzosen anfangen sollten ihre Regierung zu fragen, warum sie die Lafarge-Fabrik nach Ägypten geschickt haben. Es ist die Zeit, in der die Griechen ihre Regierung fragen sollten, warum sie die Titan-Zement-Fabrik nach Ägypten geschickt haben. Es ist die Zeit, in der die Deutschen ihre Regierung fragen sollten, warum sie immer noch ein faschistisches Militärregime subventionieren. Jetzt ist die Zeit, in der die Finanzinstitutionen der Europäischen Union mal fragen sollten, warum die die Repräsentanten der ägyptischen Regierung fortwährend Geschäfte machen, während das Gesundheitssystem und die Sozialversicherung unterfinanziert sind. Jetzt ist die Zeit, in der wir uns darüber klar werden sollten, wie die Welt funktioniert und wo wir darin gerade stehen.

    Die momentane Situation zeigt schließlich, wie ein Kampf für Demokratie gleichzeitig ein Kampf für ein funktionierendes Gesundheitswesen, gesellschaftliche Solidarität, die Gleichstellung der Geschlechter sowie Umwelt- und Klimagerechtigkeit ist. Jetzt ist die Zeit zu erkennen, dass es ein universeller Kampf ist. Es ist die Zeit, in der wir erkennen, dass wir keine Chance auf ein faires, gerechtes und gesundes Leben haben werden, es sei denn, es herrscht eine faire, gerechte, gesunde Welt für alle.